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  1. 2018

Herbst 1943: Nazis ermordeten einen Zwangsarbeiter in Stade

so erschienen im Stader Tageblatt am 03.10.18

Die Schüler des Geschichtskurses am Gymnasium Athenaeum von Dr.
Lars Hellwinkel haben das Geld für einen Stolperstein für den am 7.
Oktober 1943 auf dem alten Schießplatz aufgehängten polnischen
Zwangsarbeiter Kasimir Zarski (†18) gesammelt.

Die Schüler des Geschichtskurses am Gymnasium Athenaeum von Dr. Lars Hellwinkel haben das Geld für einen Stolperstein für den am 7. Oktober 1943 auf dem alten Schießplatz aufgehängten polnischen Zwangsarbeiter Kasimir Zarski (†18) gesammelt.

Im Herbst 1943 war das Ende des Tausendjährigen Reiches längst absehbar. Um die polnischen Zwangsarbeiter zu disziplinieren, ließen die Nazis unzählige hinrichten. Einer von ihnen war Kasimir Zarski. Er wurde am 7. Oktober 1943 in Stade öffentlich gehängt.

Kasimir (Kazimierz) Zarski stammte aus Honey/Zakopane im Riesengebirge. Rund 1,6 Millionen Polen waren während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden – unter ihnen auch Zarski. Sie wurden von den Landesarbeitsämtern verteilt, so Dr. Gudrun Fiedler vom Niedersächsischen Landesarchiv in Stade. Dort wird seine Zwangsarbeiterkartei aufbewahrt.

Zarski arbeitete ab April 1940 auf Bauernhöfen in Stade und Blumenthal im Landkreis Stade, der Katholik hatte seine Heimat im Alter von vierzehneinhalb Jahren verlassen müssen. Die rassenpolitischen „Polen-Erlasse“ vom 8. März 1940 von SS-Reichsführer Heinrich Himmler schrieben vor, dass die laut Adolf Hitler „zu niedriger Arbeit geborenen“ Polen ein „P“ auf ihrer Kleidung tragen mussten – ein Jahr vor der Einführung des „Judensterns“. Das Ziel war die Ausgrenzung und Stigmatisierung der „Fremdarbeiter“. In einem Merkblatt für die rund 8500 Zwangsarbeiter im Landkreis Stade hieß es: „Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verlässt …, erhält Zwangsarbeit im Konzentrationslager. Wer mit einer deutschen Frau … geschlechtlich verkehrt oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.“
1942 im Landsgerichtsgefängnis in Stade inhaftiert

Viel ist über ihn nicht bekannt, abgesehen von seiner Arbeitskarte – für das Foto mussten die zwangsverpflichteten Arbeiter 1,60 Reichsmark zahlen – und Aussagen von Nazis und Verfolgten. Im Jahr 1942 wurde Zarski zwei Mal im Landgerichtsgefängnis in Stade inhaftiert, im Herbst wurde der junge Pole vom Amtsgericht Stade für ein halbes Jahr wegen einer angeblich „unzüchtigen Handlung“ mit zwei Kindern, sechs und zehn Jahre, ins Strafgefängnis Hannover gesteckt. Laut Paragraf 176 muss das Gericht „mildernde Umstände“ gesehen haben. Die Akte mit dem Urteil des Amtsgerichts existiert nicht mehr. Fakt ist: Ab dem 12. April 1943 war Kasimir Zarski laut seiner Zwangsarbeiter-Karteikarte wieder im Kreis Stade – als „Zivilarbeiter“ auf einem Hof in Blumenthal. Mehr als ein Jahr später wählte die zuständige Gestapo Bremen/Stade „ohne Gerichtsurteil, willkürlich und wahrscheinlich einfach nach Aktenlage einen zu erhängenden polnischen Zwangsarbeiter aus: Kasimir Zarski“, sagt der Stader Michael Quelle, Experte für die Geschichte des Dritten Reiches im Landkreis Stade.

Für Quelle „stellt sich die Hinrichtung als ein Willkürakt der Gestapo zur Disziplinierung von polnischen Zwangsarbeitern vor der sich schon 1943 abzeichnenden militärischen Niederlage dar“. Denn ein aktuelles, tatsächliches Vergehen lag nicht vor, er hatte seine Haftstrafe längst verbüßt – immer vorausgesetzt, dass er sich 1942 tatsächlich schuldig gemacht hatte und die Anklage nicht – wie in ähnlichen Fällen – auf falschen Anschuldigungen fußte. Denn sein Aufenthaltsort auf einem Bauernhof in Blumenthal musste für die Festnahme erst von der Polizei vor Ort ermittelt werden. Ein weiteres Indiz dafür, dass es tatsächlich ein Willkürakt war.

Zarski war nicht der einzige Pole, der der nationalsozialistischen Willkür in Stade zum Opfer fiel. „Es reichte aus, wenn ein Pole sich mit einem Deutschen zerstritten hatte, und dieser ging zur Gestapo und machte eine schriftliche Aussage, dass er ihn mit einer Deutschen gesehen hatte, und schon brachte die Gestapo den Unglücklichen an den Galgen“, erinnerte sich der Pole Wladislaw Koper im Jahr 1965 an die Hinrichtung.
Hinrichtung im Stadtteil Campe

Die Hinrichtung fand auf dem alten, von hohen Wällen und von Bäumen umgebenen und von der Stader Schutzpolizei abgesperrten Schießstand auf der Könshöhe (Salinenweg/Sachsenstraße) in Campe statt. Die Anwohnerin, Margarethe Waller, wie ihr Mann Heinrich als SPD-Anhängerin von den Nazis drangsaliert, wurde indirekt Zeugin der Hinrichtung des jungen Mannes. „Als ich im Jahre 1943 eines Tages zum Milchholen ging, sah ich in der Nähe des Schießplatzes, wo wir wohnten, eine größere Menschenmenge. Ich erkundigte mich, was los sei, und man erklärte mir, dort werde ein Pole aufgehängt. Daraufhin sagte ich zu einem mir bekannten Nachbarn, jede Mutter weint um ihr Kind.“ Dafür kam sie nach der Verhaftung mit ihrem Mann Heinrich am 20. Oktober 1943 ins Gefängnis, später ins Konzentrationslager Ravensbrück. Rund 200 polnische Zwangsarbeiter mussten der Hinrichtung beiwohnen – gemeinsam mit der NS-Führung, vom NSDAP-Ortsgruppenleiter bis zum Regierungspräsidenten.

Das Aufhängen überließen die Bremer Gestapo-Beamten zwei Polen. Ein Stapo-Beamter habe, so der ehemalige NSDAP-Ortgruppenleiter Johann Haack bei seiner Vernehmung am 10. Juni 1947, „in deutscher und polnischer Sprache“ vorgelesen, „der Pole müsse gehängt werden, da er zum Tode verurteilt worden sei, weil er ein zwölfjähriges deutsches Mädchen vergewaltigt habe. Nach der Hinrichtung wurden etwa 200 Polen an dem aufgehängten Polen vorbeigeführt.“ Er starb mit 18 Jahren – am Galgen.

Der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe war bereits von Zeitzeugen in Zweifel gezogen worden. Auch der in den 1980er Jahren vom Landkreis Stade beauftragte Historiker Hartmut Lohmann glaubt, dass es den Sicherheitsbehörden vor dem Hintergrund der NS-Rassengesetze und der drohenden Niederlage darum gegangen ist, ein „Exempel zu statuieren“, als abschreckendes Beispiel für die unter Strafe gestellten Beziehungen zwischen Polen und Deutschen.
Gestapo selbst entschied über Leben und Tod

1960/1961 hatte die Staatsanwaltschaft Stade wegen dieses Verbrechens an Kasimir Zarski ein Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt. Hermann Brandes, ehemaliger Kriminalbeamter bei der Gestapo-Nebenstelle in Stade, sagte bei seiner Vernehmung 1961 folgendes aus: „Im Verlauf der von mir angestellten Ermittlung und Vernehmung wurde der Beschuldigte der Tat überführt und war auch geständig.“ Ein Gerichtsurteil, natürlich war auch Justitia längst Teil der nationalsozialistischen Willkürherrschaft, gab es nicht, die Gestapo selbst entschied über Leben und Tod.

Die Beteiligten schoben die Schuld bei den Ermittlungsverfahren in der jungen Bundesrepublik einem Gestapo-Leiter in Bremen zu. Der allerdings konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, er war im Zweiten Weltkriege gestorben.

Epilog: Der Sozialdemokrat Heinrich Waller vom Komitee ehemaliger politischer Gefangener im Kreis Stade, 1948 an den Folgen der KZ-Haft gestorben, schrieb in einem Brief vom 24. November 1947 an das Spruchgericht Benefeld-Bomlitz: „Die Erhängung des Polen sollte nach Außen hin als ein abschreckendes Mittel gelten und zur Einschüchterung der anderen ausländischen Arbeiter.“ 1956 wurde Kasimir Zarski auf dem Ehrenhügel für NS-Opfer auf dem Osterholzer Friedhof in Bremen bestattet.

Schüler finanzieren einen Stolperstein

Bei zwei Veranstaltungen wird in Stade an Kasimir Zarski erinnert: Zum einen bei einem stillen Gedenken am Sonntag, 7. Oktober, auf dem Mitarbeiter-Parkplatz des Solemio und zum anderen bei einer Veranstaltung am Dienstag, 9. Oktober, 19 Uhr, im Schwedenspeicher am Wasser West in Stade. Schülerinnen und die Schüler eines Geschichtskurses von Dr. Lars Hellwinkel, am Gymnasium Athenaeum haben bei einem Kuchenverkauf in der Schule rund 120 Euro für einen Stolperstein für Kasimir Zarski zusammenbekommen. Sie hatten sich im Unterricht mit der deutsch-polnischen Geschichte beschäftigt. Gymnasiast Konrad, der selbst polnisch spricht, hat bereits ersten Kontakt mit der Verwaltung in Honey/Zakopane im Riesengebirge aufgenommen. Ihnen sei es wichtig, dass die Menschen heute „über den Blick in die Vergangenheit“ mehr über das nationalsozialistische Unrechtsregime erfahren – „auch als Mahnung für die Gegenwart“, so Leo. Schnell seien sie sich einig gewesen, dass es einen Stolperstein geben müsse. Sein Schicksal habe sie sehr berührt.

Mit den Stolpersteinen erinnert der Künstler Gunter Demnig seit Jahren an Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland verfolgt, deportiert und ermordet worden sind. So gibt es auch in Stade unter anderem auch einen Stolperstein für die Zeugin Margarethe Waller und ihren Mann Heinrich – von den Nazis nach der Hinrichtung Zarskis erst ins Gefängnis, später in das KZ gesteckt.

Bürgermeisterin Silvia Nieber und die Stadt Stade unterstützen das Gedenken. Die SPD-Politikerin hatte im Vorfeld den Kontakt mit dem Lokalhistoriker Michael Quelle gesucht, der sich mit Zarskis Leben beschäftigt hat. Sie begrüßt, dass die Schüler des Athenaeums – eine von ihnen wird auf der Violine spielen, eine andere einen Kurzvortrag zu Zarski halten – sowie die katholische und die evangelische Kirche sich an dem Gedenken an seinem Todestag am Sonntag, 7. Oktober, 16 Uhr, auf dem Mitarbeiter-Parkplatz des Solemio am Salinenweg beteiligen werden. Der evangelische Superintendent Dr. Thomas Kück und der katholische Pfarrer i.R. Oskar Rauchfuß werden eine ökumenische Andacht halten, die Hansestadt wird durch den Ersten stellvertretenden Bürgermeister Sönke Hartlef (CDU) vertreten. Nieber begrüßt das Engagement der Schüler. Dem Stolperstein steht sie wohlwollend gegenüber. Sein Name steht auf der „Stele“ für die NS-Opfer vor der Wilhadikirche in Stade. Allerdings werde ein Gremienbeschluss für die Verlegung eines Stolpersteines benötigt.

Am Dienstag, 9. Oktober, 19 Uhr, wird nach dem Einleitungsvortrag „Das kurze Leben von Kazimierz Zarski“ von Dr. Lars Hellwinkel der Spielfilm „Das Heimweh des Walerjan Wrobel“ im Schwedenspeicher am Wasser West in Stade gezeigt. Die Stadt hat ihnen die Miete erlassen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - Kreisverband Stade (GEW), der Rosa Luxemburg Club Niederelbe und die VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten - Kreisvereinigung Stade laden ein. Der Eintritt ist frei.

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