Im Herbst 1943 war das Ende des Tausendjährigen Reiches längst
absehbar. Um die polnischen Zwangsarbeiter zu disziplinieren,
ließen die Nazis unzählige hinrichten. Einer von ihnen war Kasimir
Zarski. Er wurde am 7. Oktober 1943 in Stade öffentlich gehängt.
Kasimir (Kazimierz) Zarski stammte aus Honey/Zakopane im
Riesengebirge. Rund 1,6 Millionen Polen waren während des Zweiten
Weltkrieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden
– unter ihnen auch Zarski. Sie wurden von den Landesarbeitsämtern
verteilt, so Dr. Gudrun Fiedler vom Niedersächsischen Landesarchiv
in Stade. Dort wird seine Zwangsarbeiterkartei aufbewahrt.
Zarski arbeitete ab April 1940 auf Bauernhöfen in Stade und
Blumenthal im Landkreis Stade, der Katholik hatte seine Heimat im
Alter von vierzehneinhalb Jahren verlassen müssen. Die
rassenpolitischen „Polen-Erlasse“ vom 8. März 1940 von
SS-Reichsführer Heinrich Himmler schrieben vor, dass die laut Adolf
Hitler „zu niedriger Arbeit geborenen“ Polen ein „P“ auf ihrer
Kleidung tragen mussten – ein Jahr vor der Einführung des
„Judensterns“. Das Ziel war die Ausgrenzung und Stigmatisierung der
„Fremdarbeiter“. In einem Merkblatt für die rund 8500
Zwangsarbeiter im Landkreis Stade hieß es: „Wer lässig arbeitet,
die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte
eigenmächtig verlässt …, erhält Zwangsarbeit im
Konzentrationslager. Wer mit einer deutschen Frau … geschlechtlich
verkehrt oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode
bestraft.“
1942 im Landsgerichtsgefängnis in Stade inhaftiert
Viel ist über ihn nicht bekannt, abgesehen von seiner Arbeitskarte
– für das Foto mussten die zwangsverpflichteten Arbeiter 1,60
Reichsmark zahlen – und Aussagen von Nazis und Verfolgten. Im Jahr
1942 wurde Zarski zwei Mal im Landgerichtsgefängnis in Stade
inhaftiert, im Herbst wurde der junge Pole vom Amtsgericht Stade
für ein halbes Jahr wegen einer angeblich „unzüchtigen Handlung“
mit zwei Kindern, sechs und zehn Jahre, ins Strafgefängnis Hannover
gesteckt. Laut Paragraf 176 muss das Gericht „mildernde Umstände“
gesehen haben. Die Akte mit dem Urteil des Amtsgerichts existiert
nicht mehr. Fakt ist: Ab dem 12. April 1943 war Kasimir Zarski laut
seiner Zwangsarbeiter-Karteikarte wieder im Kreis Stade – als
„Zivilarbeiter“ auf einem Hof in Blumenthal. Mehr als ein Jahr
später wählte die zuständige Gestapo Bremen/Stade „ohne
Gerichtsurteil, willkürlich und wahrscheinlich einfach nach
Aktenlage einen zu erhängenden polnischen Zwangsarbeiter aus:
Kasimir Zarski“, sagt der Stader Michael Quelle, Experte für die
Geschichte des Dritten Reiches im Landkreis Stade.
Für Quelle „stellt sich die Hinrichtung als ein Willkürakt der
Gestapo zur Disziplinierung von polnischen Zwangsarbeitern vor der
sich schon 1943 abzeichnenden militärischen Niederlage dar“. Denn
ein aktuelles, tatsächliches Vergehen lag nicht vor, er hatte seine
Haftstrafe längst verbüßt – immer vorausgesetzt, dass er sich 1942
tatsächlich schuldig gemacht hatte und die Anklage nicht – wie in
ähnlichen Fällen – auf falschen Anschuldigungen fußte. Denn sein
Aufenthaltsort auf einem Bauernhof in Blumenthal musste für die
Festnahme erst von der Polizei vor Ort ermittelt werden. Ein
weiteres Indiz dafür, dass es tatsächlich ein Willkürakt war.
Zarski war nicht der einzige Pole, der der nationalsozialistischen
Willkür in Stade zum Opfer fiel. „Es reichte aus, wenn ein Pole
sich mit einem Deutschen zerstritten hatte, und dieser ging zur
Gestapo und machte eine schriftliche Aussage, dass er ihn mit einer
Deutschen gesehen hatte, und schon brachte die Gestapo den
Unglücklichen an den Galgen“, erinnerte sich der Pole Wladislaw
Koper im Jahr 1965 an die Hinrichtung.
Hinrichtung im Stadtteil Campe
Die Hinrichtung fand auf dem alten, von hohen Wällen und von Bäumen
umgebenen und von der Stader Schutzpolizei abgesperrten Schießstand
auf der Könshöhe (Salinenweg/Sachsenstraße) in Campe statt. Die
Anwohnerin, Margarethe Waller, wie ihr Mann Heinrich als
SPD-Anhängerin von den Nazis drangsaliert, wurde indirekt Zeugin
der Hinrichtung des jungen Mannes. „Als ich im Jahre 1943 eines
Tages zum Milchholen ging, sah ich in der Nähe des Schießplatzes,
wo wir wohnten, eine größere Menschenmenge. Ich erkundigte mich,
was los sei, und man erklärte mir, dort werde ein Pole aufgehängt.
Daraufhin sagte ich zu einem mir bekannten Nachbarn, jede Mutter
weint um ihr Kind.“ Dafür kam sie nach der Verhaftung mit ihrem
Mann Heinrich am 20. Oktober 1943 ins Gefängnis, später ins
Konzentrationslager Ravensbrück. Rund 200 polnische Zwangsarbeiter
mussten der Hinrichtung beiwohnen – gemeinsam mit der NS-Führung,
vom NSDAP-Ortsgruppenleiter bis zum Regierungspräsidenten.
Das Aufhängen überließen die Bremer Gestapo-Beamten zwei Polen. Ein
Stapo-Beamter habe, so der ehemalige NSDAP-Ortgruppenleiter Johann
Haack bei seiner Vernehmung am 10. Juni 1947, „in deutscher und
polnischer Sprache“ vorgelesen, „der Pole müsse gehängt werden, da
er zum Tode verurteilt worden sei, weil er ein zwölfjähriges
deutsches Mädchen vergewaltigt habe. Nach der Hinrichtung wurden
etwa 200 Polen an dem aufgehängten Polen vorbeigeführt.“ Er starb
mit 18 Jahren – am Galgen.
Der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe war bereits von Zeitzeugen in
Zweifel gezogen worden. Auch der in den 1980er Jahren vom Landkreis
Stade beauftragte Historiker Hartmut Lohmann glaubt, dass es den
Sicherheitsbehörden vor dem Hintergrund der NS-Rassengesetze und
der drohenden Niederlage darum gegangen ist, ein „Exempel zu
statuieren“, als abschreckendes Beispiel für die unter Strafe
gestellten Beziehungen zwischen Polen und Deutschen.
Gestapo selbst entschied über Leben und Tod
1960/1961 hatte die Staatsanwaltschaft Stade wegen dieses
Verbrechens an Kasimir Zarski ein Ermittlungsverfahren in Gang
gesetzt. Hermann Brandes, ehemaliger Kriminalbeamter bei der
Gestapo-Nebenstelle in Stade, sagte bei seiner Vernehmung 1961
folgendes aus: „Im Verlauf der von mir angestellten Ermittlung und
Vernehmung wurde der Beschuldigte der Tat überführt und war auch
geständig.“ Ein Gerichtsurteil, natürlich war auch Justitia längst
Teil der nationalsozialistischen Willkürherrschaft, gab es nicht,
die Gestapo selbst entschied über Leben und Tod.
Die Beteiligten schoben die Schuld bei den Ermittlungsverfahren in
der jungen Bundesrepublik einem Gestapo-Leiter in Bremen zu. Der
allerdings konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, er
war im Zweiten Weltkriege gestorben.
Epilog: Der Sozialdemokrat Heinrich Waller vom Komitee ehemaliger
politischer Gefangener im Kreis Stade, 1948 an den Folgen der
KZ-Haft gestorben, schrieb in einem Brief vom 24. November 1947 an
das Spruchgericht Benefeld-Bomlitz: „Die Erhängung des Polen sollte
nach Außen hin als ein abschreckendes Mittel gelten und zur
Einschüchterung der anderen ausländischen Arbeiter.“ 1956 wurde
Kasimir Zarski auf dem Ehrenhügel für NS-Opfer auf dem Osterholzer
Friedhof in Bremen bestattet.
Schüler finanzieren einen Stolperstein
Bei zwei Veranstaltungen wird in Stade an Kasimir Zarski erinnert:
Zum einen bei einem stillen Gedenken am Sonntag, 7. Oktober, auf
dem Mitarbeiter-Parkplatz des Solemio und zum anderen bei einer
Veranstaltung am Dienstag, 9. Oktober, 19 Uhr, im Schwedenspeicher
am Wasser West in Stade. Schülerinnen und die Schüler eines
Geschichtskurses von Dr. Lars Hellwinkel, am Gymnasium Athenaeum
haben bei einem Kuchenverkauf in der Schule rund 120 Euro für einen
Stolperstein für Kasimir Zarski zusammenbekommen. Sie hatten sich
im Unterricht mit der deutsch-polnischen Geschichte beschäftigt.
Gymnasiast Konrad, der selbst polnisch spricht, hat bereits ersten
Kontakt mit der Verwaltung in Honey/Zakopane im Riesengebirge
aufgenommen. Ihnen sei es wichtig, dass die Menschen heute „über
den Blick in die Vergangenheit“ mehr über das
nationalsozialistische Unrechtsregime erfahren – „auch als Mahnung
für die Gegenwart“, so Leo. Schnell seien sie sich einig gewesen,
dass es einen Stolperstein geben müsse. Sein Schicksal habe sie
sehr berührt.
Mit den Stolpersteinen erinnert der Künstler Gunter Demnig seit
Jahren an Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland
verfolgt, deportiert und ermordet worden sind. So gibt es auch in
Stade unter anderem auch einen Stolperstein für die Zeugin
Margarethe Waller und ihren Mann Heinrich – von den Nazis nach der
Hinrichtung Zarskis erst ins Gefängnis, später in das KZ gesteckt.
Bürgermeisterin Silvia Nieber und die Stadt Stade unterstützen das
Gedenken. Die SPD-Politikerin hatte im Vorfeld den Kontakt mit dem
Lokalhistoriker Michael Quelle gesucht, der sich mit Zarskis Leben
beschäftigt hat. Sie begrüßt, dass die Schüler des Athenaeums –
eine von ihnen wird auf der Violine spielen, eine andere einen
Kurzvortrag zu Zarski halten – sowie die katholische und die
evangelische Kirche sich an dem Gedenken an seinem Todestag am
Sonntag, 7. Oktober, 16 Uhr, auf dem Mitarbeiter-Parkplatz des
Solemio am Salinenweg beteiligen werden. Der evangelische
Superintendent Dr. Thomas Kück und der katholische Pfarrer i.R.
Oskar Rauchfuß werden eine ökumenische Andacht halten, die
Hansestadt wird durch den Ersten stellvertretenden Bürgermeister
Sönke Hartlef (CDU) vertreten. Nieber begrüßt das Engagement der
Schüler. Dem Stolperstein steht sie wohlwollend gegenüber. Sein
Name steht auf der „Stele“ für die NS-Opfer vor der Wilhadikirche
in Stade. Allerdings werde ein Gremienbeschluss für die Verlegung
eines Stolpersteines benötigt.
Am Dienstag, 9. Oktober, 19 Uhr, wird nach dem Einleitungsvortrag
„Das kurze Leben von Kazimierz Zarski“ von Dr. Lars Hellwinkel der
Spielfilm „Das Heimweh des Walerjan Wrobel“ im Schwedenspeicher am
Wasser West in Stade gezeigt. Die Stadt hat ihnen die Miete
erlassen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft -
Kreisverband Stade (GEW), der Rosa Luxemburg Club Niederelbe und
die VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten -
Kreisvereinigung Stade laden ein. Der Eintritt ist frei.
Herbst 1943: Nazis ermordeten einen Zwangsarbeiter in Stade
so erschienen im Stader Tageblatt am 03.10.18
Die Schüler des Geschichtskurses am Gymnasium Athenaeum von Dr. Lars Hellwinkel haben das Geld für einen Stolperstein für den am 7. Oktober 1943 auf dem alten Schießplatz aufgehängten polnischen Zwangsarbeiter Kasimir Zarski (†18) gesammelt.